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Vorher Stellt Er Ihnen Nach
Blake Pierce


Von Blake Pierce, dem #1 Bestseller Autor von VERSCHWUNDEN (einem #1 Bestseller mit Гјber 1200 ausgezeichneten Bewertungen) erscheint nun das dreizehnte Buch der mitreiГџenden Mystery-Reihe um Mackenzie White.

Als an den regnerischen Küsten von Puget Sound Leichen gefunden werden und keine Spur in Sicht ist, wird FBI Spezialagentin Mackenzie White hinzugerufen. Mackenzie, die zuerst glaubt, dass es sich um gewöhnliche Tötungsdelikte handelt, mit denen sie sich wieder langsam an die Arbeit herantasten kann, erlebt schnell eine unangenehme Überraschung.

In einem Wettrennen um die Zeit und die immer weiter ansteigende Zahl von Leichen erforscht Mackenzie die Denkweise eines psychotischen Serienmörders und verfängt sich in einem Katz-und-Mausspiel. Sie tut sich schwer, so kurz nach der Geburt ihres Sohnes zum Arbeitsleben zurückzukehren und fragt sich, ob sie sich zu viel vorgenommen hat.

Und als es eigentlich nicht mehr schlimmer werden kann, steht ihr eine schockierende und unvorhersehbare Wendung ins Haus.

Ein dunkler Psychothriller mit mitreißender Spannung: VORHER STELLT ER IHNEN NACH ist der dreizehnte Band der neuen, fesselnden Reihe mit einer Figur, die wir alle bereits liebgewonnen haben. Ein richtiger Schmöker eben, den Sie kaum aus der Hand legen wollen werden.

Außerdem ist Blake Pierces erfolgreiches Buch VERSCHWUNDEN (Ein Riley Paige Mystery—Buch #1), das über 1200 Mal als ausgezeichnet bewertet wurde, als kostenloser Download erhältlich.





Blake Pierce

Vorher Stellt Er Ihnen Nach



Copyright © 2019 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig. Buchumschlagsbild Copyright Joe Therasakdhi, mit Lizenz von Shutterstock.com



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.

Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!


BГњCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)



ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELГ–ST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




Prolog


Töte sie nach der Arbeit. Sie soll es nicht zurück nach Hause schaffen.

Die Anweisung war mit seinen Gedanken verwoben. Er hörte sie nun schon seit zwei Tagen – die Stimme in seinem Kopf, die geboren worden war, als er das Bild im Kunst- und Unterhaltungsteil der Lokalzeitung entdeckt hatte. Er hatte die Frau der Erotikshop-Anzeige schon zuvor gesehen. Zu sagen, dass sie attraktiv war, wäre eine Untertreibung. Sie war so heiß, dass die Bitte um ein Date mit ihr sinnlos war. Niemals würde er eine Frau wie sie haben können.

Ja, er hatte sie schon öfters gesehen. Sie arbeitete als Kellnerin im Imbiss ‚Sixteenth Street Diner�. Sie übernahm dort die Spätschicht zwischen einundzwanzig und zwei Uhr. Er hatte sie zu Unizeiten hin und wieder gesehen, wenn er die Blödsinnigkeit der Studentenwohnheime, Partys und Hausarbeiten hatte hinter sich lassen wollen. Freunde hatte er nie wirklich gehabt, es war also immer einfach für ihn gewesen, sich wegzuschleichen, ohne ausgefragt zu werden. Seine spätabendlichen Gelüste hatte er im ‚Sixteenth Street Diner� gestillt – fettige Eier, Bratkartoffeln und rabenschwarzen Kaffee. Er war gerne gekommen, wenn sie auch dort war. Sie war nett, aber nicht zu nett gewesen und hatte nicht den Eindruck gemacht, lediglich Mitleid mit dem einsamen Typen zu haben, der jede Menge Essen in sich hineinschaufelte. Indem er den anderen Idioten zuhörte, die versuchten, mit ihr zu flirten, hatte er einiges über sie erfahren.

Sie war auch Studentin. Oder zumindest war sie es damals, vor drei Jahren, gewesen.

Er hatte sie auch vor der Uni schon gekannt. Aber daran erinnerte sie sich nicht. Das wusste er, ohne sie danach fragen zu müssen. Er sah es in ihrem Blick, ihrem höflichen Lächeln, das auf ein nettes Trinkgeld hoffte. Er nahm es ihr nicht übel. Warum sollte sich eine Frau wie sie an einen Typen wie ihn erinnern, nur weil sie beide dieselbe, verhältnismäßig große, Abschlussklasse besucht hatten?

Sie sah jetzt Г¤lter aus, in der Zeitungsanzeige. Aber Gott, heiГџ war sie noch immer. Sogar noch heiГџer. Die Netzstrumpfhosen, Stilettos und ihre nackte Brust, die lediglich vom Logo des Shops verdeckt wurde, waren fast schon schmerzhaft anzusehen.

Vielleicht war das der Grund für diesen plötzlichen Gedanken gewesen, die Anweisung, die jetzt in seinem Kopf herumschwirrte. Als die Stimme sich zum ersten Mal gemeldet hatte, war er spät abends in besagtes Restaurant in der sechzehnten Straße gegangen. Einfach um zu sehen, ob sie noch immer dort arbeitete. Er ging davon aus, schließlich hatte man sie dort wie eine Göttin behandelt. Sie hatte genug Grufti-Ausstrahlung, um jene Art von Kundschaft anzuziehen, schaffte es aber auch, die klassische Schönheit zu sein, die sowohl Sportlern als auch älteren Männern in der Midlifecrisis gefiel. Er hatte beobachtet, wie sie von Männern, die lediglich Kaffee und Pie bestellt hatten, Trinkgeld in Höhe von fünfzig Dollar erhalten hatte. Der Pie schien dabei eine offene Einladung für unzählige sexuelle Anspielungen gewesen zu sein.

Wie vermutet war sie noch immer dort. Sie hatte ihn sogar bedient, ihm Bagel, Bacon und Tee mit einem Lächeln gebracht. Und mit einem Ausschnitt, der die Fantasien anregte, die er bereits zu Collegezeiten entwickelt hatte. Er hatte sogar angemerkt, sie aus seiner Zeit an der Uni zu kennen, als sie ihn und seine Freunde bedient hatte. Sie schien es zu schätzen, dass er sich an sie erinnerte, aber bei einer Kellnerin, die sich so kleidete und vom Trinkgeld abhängig war, fiel es ihm schwer, ihre Ehrlichkeit einzuschätzen.

Er dachte an ihr Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte, als sie den Imbiss durch den Hintereingang betreten hatte. Es war nun 1.18 Uhr. Es regnete leicht, aber das schien in dieser furchtbaren Stadt immer der Fall zu sein. Er trug eine Regenjacke und saß auf den Stufen des Seiteneingangs eines Plattenladens, der im Schatten des Schnellrestaurants lag und so kaum sichtbar war.

Töte sie nach der Arbeit. Sie soll es nicht zurück nach Hause schaffen.

Hinter dem Restaurant gab es keine Parkplätze. Das hatte er herausgefunden, als er gekommen war, um zu sehen, ob sie noch immer hier arbeitete. Er hatte mehrere Angestellte beim Kommen und Gehen beobachtet, nachdem er den Imbiss verlassen hatte. Sie alle waren einen Straßenblock weiter und über die Straße gegangen, wo sich ein kleines Parkhaus an der Ecke befand.

Seinen Berechnungen zufolge blieben ihm genau vier Minuten, nachdem sie den Hinterausgang verlassen hatte. Vier Minuten, die sie brauchte, um vom Imbiss zu ihrem Wagen zu gehen. Er sah zu, wie sie finster in den Regen blickte und dann schГјtzend ihre kleine Handtasche Гјber den Kopf hielt. Joggend bewegte sie sich Richtung Gehweg.

Ihr Rennen, auch wenn es ein langsames war, wГјrde seine vier Minuten vermutlich in drei verwandeln. Seine Anspannung wuchs. Er stand auf und folgte ihr. Als sie vollkommen auГџer Sicht war und auf dem Gehweg zum Ende des Blocks joggte, beschleunigte er seinen Schritt ebenfalls. Erst als er selbst den BГјrgersteig betrat, verlangsamte er seinen Schritt wieder. Er blickte in beide Richtungen und sah auГџer der Kellnerin nur drei andere Menschen. Zwei liefen Hand in Hand in die andere Richtung. Der dritte war ein zottelig wirkender Mann, dem Aussehen nach vermutlich obdachlos. Er beobachtete die Kellnerin mit groГџem Interesse, als sie die StraГџe in Richtung Parkhaus Гјberquerte.

Er passierte den obdachlosen Mann und hielt sich dabei in sicherer Entfernung hinter der Kellnerin. Als sie die Garage betrat – nicht durch die große Öffnung für Fahrzeuge, sondern durch die Seitentür, die zum Aufzug führte – beschleunigte er seinen Schritt wieder und rannte über die Straße. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht und schien ihn anzutreiben.

Er entschied sich fГјr den Haupteingang. Der Check-In-Schalter war nicht besetzt, aber er wusste, dass Autofahrer ein Ticket am Automaten bei der Schranke ziehen mussten. Er schob sich zwischen der gelben Absperrung und der Wand in die Garage. Sie bestand nur aus zwei Ebenen, er wusste also, dass sie nach oben gegangen war. Er hechtete zur Treppe. Seine nassen Schuhe quietschten auf dem Beton.

Als er oben angekommen war, hämmerte sein Herz. Leise öffnete er die Tür des Treppenhauses und verließ es gerade rechtzeitig, um sie noch zu sehen. Sie hatte bereits die Hälfte der hinteren Reihe hinter sich gelassen, ging gerade auf ihren Wagen zu und griff in ihre Tasche. Während er die Entfernung zwischen ihnen verringerte, zog sie ihren Schlüssel heraus.

Sie hatte ihn bemerkt, hatte ihn nur einen Moment lang angesehen und dann ihre Aufmerksamkeit zur AutotГјr gerichtet. Es war ein Г¤lterer Wagen, sie musste ihn manuell aufschlieГџen, statt lediglich auf den Knopf zu drГјcken. Als sie den SchlГјssel hineinsteckte, rannte er los.

Töte sie nach der Arbeit. Sie soll es nicht zurück nach Hause schaffen.

Es wäre sein erstes Mal. Er war sich nicht sicher, ob er es tun konnte. Vielleicht, wenn ihr Gesicht nicht so vertraut wäre, vielleicht, wenn er zu Collegezeiten nicht so oft an sie gedacht hätte …

Seine Gedanken wurden immer lauter. Es war fast, als folge ihm jemand. Als schreie ihm jemand die Worte ins Ohr.

Sie sah nun, dass er auf sie zukam. Sie begann, sich schneller zu bewegen. Dann ließ sie die Schlüssel fallen. Er hörte das Klirren auf dem Boden und wusste, dass er sie hatte.

Als er sich dem Wagen näherte, gab sie ihren Versuch auf, ihm zu entkommen. Er bemerkte, dass sie ihn erkannt hatte. Es machte ihn fast glücklich, anzunehmen, dass sie sich an ihre Begegnung vor zwei Tagen erinnerte.

„Was …?“

Mehr brachte sie nicht heraus.

Es stellte sich heraus, dass er es tun konnte.

Und tatsächlich machte es ihn sogar mehr als glücklich.

Er nahm den Hammer aus der Innentasche seiner Regenjacke und zog ihn wie ein SchГјtze aus dem Wilden Westen. Als ihr Mund versuchte, ein weiteres Wort zu formen, krachte der Hammer bereits gegen ihre Lippen.

Kurzzeitig übertönte das wiederholte Schmettern des Hammers fast das Geräusch des Regens, das durch die offenen Wände der Garage immer lauter wurde.




Kapitel eins


Mackenzie betrachtete die digitale Nummer auf der Waage und verspürte ein Gefühl des Triumphs, dessen sie sich fast schämte. Laut der Zahl hatte sie endlich ihr Vor-Schwangerschafts-Gewicht erreicht. Sie war sogar ein Kilo drunter. Sie war noch nie auf ihr Gewicht fixiert gewesen, aber die Zahl war der Beweis, dass es möglich war, ein bisschen Normalität zurückzuerlangen. Ja, sie hatte sich ans Muttersein gewöhnt und sie war damit ins Reine gekommen, dass ihr Leben sich für immer verändert hatte.

Aber aus irgendeinem Grund hatte sie Probleme damit gehabt, ihre Schwangerschaftskilos zu verlieren. Die letzten fünf Kilo waren sehr hartnäckig gewesen und es hatte länger gedauert als sie oder ihr Arzt es erwartet hatten. Und jetzt endlich war es geschafft. Fast acht Monate und ein heimtückischer Fall, der an einer Felswand geendet war, später, hatte sie endlich ihr Zielgewicht erreicht. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zuletzt so gesund gefühlt hatte.

Sie stieg von der Waage und versuchte, sich einzureden, dass es okay war, sich in kleinen Erfolgen zu sonnen. Ihre postpartale Depression war genauso hartnäckig gewesen wie ihr Gewicht und hatte sich, genau wie die letzten fünf Kilo, nur schwermütig verabschieden wollen.

„Was machst du?“

Mackenzie drehte sich zur Badezimmertür und sah Ellington. Er sah die Waage an, als hätte er nie erwartet, seine Frau auf einer stehen zu sehen.

„Ich nehme mir gerade einen Moment, um kleine Erfolge zu feiern.“

„Darf ich fragen?“, wollte er wissen und betrachtete skeptisch die Waage.

„Ich bin dort, wo ich sein möchte“, sagte sie. „Zumindest was mein Gewicht betrifft.“

Er trat ins Badezimmer und küsste sie auf die Wange. „Ich muss los, wollte mich nur eben verabschieden.“

„Sehr bald werde ich auch wieder morgens mit dir das Haus verlassen“, sagte sie.

„Oh, ich weiß. Und ich freue mich darauf.“

Er nahm sie in den Arm und die unausgesprochenen Worte reichten. Nach dem letzten Fall, der sie nur fünf Monate nach ihrem gerade verheilten Kaiserschnitt weit über ihre Grenzen hinausbefördert hatte, war sie von McGrath dazu gezwungen worden, weitere drei Monate auszusetzen. Sie war noch immer Agentin, aber arbeitete nur von zuhause, wo sie Anrufe entgegennahm und bei Recherchen unterstützte.

Sie scharrte vor Ungeduld mit den Füßen, zurück ins echte Leben geschickt zu werden, um echte Fälle zu lösen. Ellington zu beobachten, der drei, relativ aktive, Monate hinter sich hatte, war wie Folter gewesen – vor allem der Tag, an dem er mit einem seiner Partner einen bewaffneten Mann außer Gefecht gesetzt und damit eine Schießerei in einer Shopping-Mall verhindert hatte.

„Sag McGrath, dass er mein Büro vorbereiten soll“, sagte sie.

„Das werde ich. Aber Mac … du weißt, dass es sich bei eurem Treffen nächste Woche … nur um ein Treffen handelt. Es gibt keine Garantie.“

„Ja, das weiß ich. Weil es einfach ist, Frauen zu übersehen … bis sie ein Baby hatten. Dann werden sie zur Schaufenster-Deko. Einer Art Anhängsel, die niemand beleidigen oder versehentlich malträtieren möchte.“

„Er ist einfach nur vorsichtig.“

„Das weiß ich“, sagte Mackenzie. „Aber ich habe mich dazu entschieden, angepisst zu sein.“

„Das kann ich sehen.“ Er küsste sie erneut und ging dann zur Tür. „Ich werde Thai zum Abendessen mitbringen. Mach dir einen schönen Tag mit unserem kleinen Mann.“

Sie sah ihm nach und folgte ihm dann ebenfalls aus dem Badezimmer heraus. Kevin machte sein morgendliches Nickerchen im Laufstall in seinem Zimmer. Es war alles Teil der Routine. Mit seinen acht Monaten wachte er täglich um 5.45 Uhr auf, aß, spielte und schlief gegen halb acht wieder ein. Der Schlaf- und Essensrhythmus des Kleinen war präzise wie ein Uhrwerk und machte Mackenzies Tagesablauf einfacher.

Und obwohl sie ihren Sohn mehr liebte, als sie jemals für möglich gehalten hatte, überhaupt etwas zu lieben, freute sie sich schon darauf, ihn bald wieder in die Kita zu bringen. Der Platz in seiner alten Gruppe wartete bereits auf ihn. Das Personal war, angesichts Mackenzies seltsamen Arbeitsumständen im vergangenen halben Jahr, sehr wohlwollend gewesen.

Mackenzie schenkte sich ihre zweite Tasse Kaffee ein und begann ihre eigene Tagesroutine. Sie checkte ihre E-Mails, um zu sehen, ob es Rechercheaufträge gab, aber es war ruhig heute. Dann schaltete sie die Waschmaschine an und schrieb den Einkaufszettel fürs Wochenende. Während sie ihre Liste auf dem Handy vervollständigte, hörte sie Kevin, der sich zu bewegen begann. Sie sah auf die Uhr, es war viertel vor neun, und sie war alles andere als überrascht. Der Junge funktionierte wirklich wie ein Uhrwerk.

Sie betrat sein Zimmer und nahm ihn hoch. Das Lächeln, das er ihr nach seinem morgendlichen Nickerchen immer schenkte, war so schaurig wie Ellingtons, wenn er aufwachte, aber sie konnte nicht anders, als zu kichern. Als sie roch, was ihn geweckt hatte, kicherte sie nicht mehr. Sie wickelte ihn, zog ihn an und setzte ihn dann in seine Babywippe (Ellington nannte sie Vibrations-Station). Erneut checkte sie ihre E-Mails. Ein Rechercheauftrag wartete auf sie, aber sie kannte bereits die Quellen. Sie beantworte die E-Mail und lieferte innerhalb von zehn Minuten die gewünschten Informationen.

Uhrwerk. Routine. Schmutzige Windeln. Ja, ihr war klar, dass sie ein ziemlich nettes Leben hatte. Aber sie konnte es kaum erwarten, wieder an ihren wirklichen Arbeitsplatz zurГјck zu kehren.

Es war gegen Mittag, als ihr Telefon klingelte. Der Name auf dem Bildschirm machte zuerst keinen Sinn: Greg McAllister. Doch dann fiel ihr ein, dass es der Name einer der Männer war, mit denen Ellington seit Mackenzies Abwesenheit zusammenarbeitete. Sie bereitete gerade Kevins Fläschchen vor, als sie begriff, dass ihr die Ursache für den Anruf möglicherweise nicht gefallen würde. Es gab vermutlich nur einen Grund für Ellingtons Partner, sie anzurufen und sie wollte nicht einmal daran denken.

Das Telefon klingelte drei Mal, bevor sie sich dazu aufraffte, dranzugehen. „Agent White“, sagte sie. Wie albern, dachte sie, dass ich noch immer meinen alten Namen verwende, wenn mich jeder im Büro, wenn manchmal auch nur im Spaß, als Mrs. Ellington bezeichnet.

„White, hier ist Agent McAllister. Es ist nichts Schlimmes, aber Ellington wollte, dass ich anrufe, um Bescheid zu geben, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus ist.“

Sie stellte langsam die Flasche ab und sah Kevin an, der im Hochstuhl saГџ. Erst neulich hatte er gelernt, es sich darin bequem zu machen.

„Was ist passiert? Geht es ihm gut?“

„Ja, wir denken schon. Wir haben einem Verdächtigen im Drogenschmugglerfall einen Überraschungsbesuch abgestattet. Es gab eine kurze Verfolgungsjagd und Ellington ist die Treppen runtergefallen. Im schlimmsten Fall hat er einen gebrochenen Arm. Er hat sich auch den Kopf angeschlagen, aber es scheint nicht zu ernst zu sein.“

„Danke“, sagte sie. „Welches Krankenhaus?“

McAllister gab ihr alle Informationen, die er hatte. Während sie sie in ihrem Gedächtnis abspeicherte, versuchte sie gleichzeitig, zu planen, was sie mit Kevin tun sollte. Ellington hatte sie geneckt, ein bisschen zu vorsichtig mit der Gesundheit ihres Sohnes zu sein. Daran wurde sie erinnert, als sie den Anruf mit McAllister beendete, denn sie hatte kein Interesse daran, ihr Kleinkind in ein Krankenhaus zu schleppen, wenn es nicht absolut notwendig war.

Es ist nur ein gebrochener Arm, dachte sie. Er wird mich dafГјr auslachen, solch ein Drama zu machen und gleich ins Krankenhaus zu eilen.

Aber sie wollte sichergehen, dass er okay war. Die Sache mit dem angeschlagenen Kopf bereitete ihr Sorgen. Sie würde definitiv erwarten, dass er sie besuchte, wenn die Situation andersherum wäre. Sie sah Kevin an und runzelte die Stirn.

„Willst du Dad besuchen gehen, Kleiner? Scheint so, als wäre er genauso tollpatschig wie du. Er ist die Treppen runter gesegelt. Ich müsste dich allerdings mit ins Krankenhaus nehmen. Was meinst du?“

Er grinste und klopfte zur Antwort leicht gegen den Hochstuhl.

„Mir geht es genauso“, sagte sie.

Ehrlich gesagt konnte sie nicht leugnen, dass der Гјberraschende Krankenhausbesuch wegen eines gebrochenen Arms fГјr sie das aufregendste Ereignis der letzten drei Monate war.




Kapitel zwei


Wegen des kleinen Schlags gegen den Kopf, der durch den Fall verursacht worden war, saß Ellington auf einem Krankenbett, statt einfach nur wegen seines Armes in der Orthopädie behandelt zu werden. Nachdem Mackenzie sich am Empfang nach ihm erkundigt hatte, fand sie ihn auf der Krankenstation. Er sah ziemlich miserabel aus – soweit sie sehen konnte, lag das aber nicht an den Schmerzen, sondern daran, auf einem Krankenbett sitzen zu müssen.

Seine Augen leuchteten auf, als er Mackenzie sah. Und noch mehr, als er entdeckte, dass sie einen Autositz in der Hand hielt.

„Mein Gott, du hast ihn in ein Krankenhaus gebracht“, sagte Ellington.

„Halt die Klappe. Wie geht’s dir? Wie ist das passiert?“

„Naja, die Röntgenaufnahmen bestätigen, dass ich ein gebrochenes Handgelenk und eine Torusfraktur habe. Sie haben eben die Gehirnerschütterungsuntersuchungen abgeschlossen. Es müsste bald jemand kommen, um mir einen Gips anzulegen.“

Mackenzie stellte den Autositz aufs Krankenhausbett, damit Kevin seinen Vater sehen konnte.

„Habt ihr den Typen wenigstens gekriegt?“, fragte Mackenzie. Sie versuchte, gleichmütig zu klingen. Doch zu sehen, dass er offensichtlich Schmerzen hatte und versuchte, diese kleinzureden, störte sie mehr als erwartet.

„Ja. Ich bin auf ihn drauf gefallen, als ich zu Boden ging. McAllister hat ihm Handschellen angelegt und dann einen Notarzt für mich gerufen.“

Mackenzie konnte sich nicht zurückhalten. Sie untersuchte seinen Kopf und fand die Stelle, die er angeschlagen hatte. Direkt über seinem linken Auge. Es war nicht geschwollen, aber er hatte eine Schnittwunde und seine Haut war verfärbt. Die Verletzung machte eher den Eindruck, von einem leichten Faustschlag als von einem Treppensturz zu stammen.

„Du hättest nicht kommen brauchen“, sagte Ellington. „Wirklich.“

„Ich weiß. Aber ich wollte kommen. Außerdem dachte ich, es wäre eine gute Möglichkeit, Kevin zu demonstrieren, dass er immer vorsichtig sein muss, wenn er Bösewichte jagt.“

„Lustig. Hey, weißt du was … McGrath hat heute Morgen angerufen. Unter uns – ich glaube, er wollte nach dir sehen. Er hat gefragt, ob ich denke, dass du bereit für einen Fall bist. Ich vermute, dass er in ein paar Wochen was für dich hat.“

„Das sind tolle Neuigkeiten“, sagte sie. „Aber im Moment möchte ich mich auf dich konzentrieren.“

„Da gibt’s nicht viel zum Konzentrieren. Ich bin die Treppen runtergefallen und habe mir den Arm gebrochen.“

Hinter Mackenzie betrat ein Arzt den Raum, in der Hand einige Röntgenaufnahmen. „Und wie“, sagte er. „Ein hässlicher Bruch. Wir müssen nicht schrauben, wie ich ursprünglich befürchtet hatte, aber die Heilung wird etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen, als angenommen. Dass die Fraktur so nahe am Bruch ist – das ist doppeltes Pech.“

Mackenzie nahm Kevins Autositz, als der Arzt auf Ellington zuging. „Bereit, eingegipst zu werden?“

„Habe ich eine Wahl?“

„Nein“, sagte Mackenzie. „Nein, das hast du nicht.“ Im Autositz machte Kevin ein Pfff-Geräusch, als wäre er ganz ihrer Meinung.

Sie sah dem Arzt dabei zu, den Gips im großen Spülbecken auf der anderen Zimmerseite vorzubereiten und ging auf Ellington zu. „Spiel nicht den Helden. Wie geht es dir?“

„Es tut verdammt weh, aber ich habe fünf Minuten vor deiner Ankunft ein Schmerzmittel gekriegt, das sollte jetzt bald wirken.“

„Und dein Kopf?“

„Leichte Kopfschmerzen. Vielleicht schlimmer, aber das ist schwer zu sagen, weil der Arm so hämmert. Wie gesagt, ich wurde auf Zeichen einer Gehirnerschütterung untersucht und …“

Mackenzies Handy klingelte und unterbrach ihn. Sie checkte das Display in der Annahme, dass es sich um ein Follow-Up ihrer Recherche handelte. Als sie jedoch McGraths Namen auf dem Bildschirm sah, wusste sie, dass es um etwas anderes gehen musste.

„Hast du McGrath Bescheid gegeben, was passiert ist?“, fragte sie.

„Nein, aber McAllister. Warum? Ist er das?“

Mackenzie nickte, als sie leicht verwirrt abnahm. „Agent White.“

„Hi White. Ich nehme an, Sie haben bereits von Ellingtons kleinem Unfall gehört?“

„Ja, Sir. Ich bin bei ihm. Er kriegt gleich seinen Gips.“

„Nun, das könnte diese Unterhaltung etwas unangenehm gestalten. Ich spreche nicht gerne mit Ihnen über die Arbeit, während Sie bei ihm im Krankenhaus sind, aber ich bin etwas unter Zeitdruck.“

„Das ist okay. Was ist los?“

„Ich war gerade dabei, den Papierkram für Ellingtons nächsten Fall fertig zu machen, als McAllister anrief und mir von dem Unfall erzählte. Das mag jetzt vielleicht unsensibel klingen, aber ich brauche einen Agenten für den Fall und zwar sofort.“

Mackenzie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen und schwieg daher. Doch als auch McGrath nichts weiter sagte, konnte sie sich nicht zurückhalten. „Ich kann es machen, Sir.“

„Deshalb rufe ich an. Ich hatte vor, McAllister zu schicken, aber ich will ihn nicht von dem Fall wegziehen, in dem er gerade steckt. Vor allem da er und Ellington den schon fast unter Dach und Fach haben.“

„Dann geben Sie ihn mir.“

„Sind Sie sicher, dass Sie bereit sind?“

Die Frage irritierte sie, aber sie schluckte die Verunsicherung herunter. War sie bereit? Nun, sie war nur fünf Monate nach ihrem Kaiserschnitt einem Mörder an eine Felswand gefolgt. Die folgenden drei Monate, die sie zu Hause verbracht hatte, waren seine Entscheidung gewesen. Sie war anderer Meinung gewesen, hatte sich aber bemüht, folgsam zu sein.

„Ja, Sir. Ich hätte nächste Woche sowieso wieder anfangen sollen, oder?“

„Abhängig von dem Resultat unseres Treffens, ja. Aber, White … der Fall ist in Seattle. Sind Sie dafür bereit?“

Sofort wollte sie ja sagen. Aber als ihr das Wort auf der Zunge lag, Гјberlegte sie, wie es sein wГјrde, so weit weg von Kevin zu sein. In den letzten drei Monaten waren sie noch enger zusammengewachsen und sie hatte die Art von Bonding erlebt, von denen alle BГјcher sprachen. Sie wГјrde alles fГјr ihren Sohn tun und der Gedanke, fГјr unbestimmte Zeit auf der anderen Seite des Landes zu sein, gefiel ihr nicht. Vor allem, da Kevin mit einem Elternteil zurГјckbleiben wГјrde, der nur einen Arm zur VerfГјgung hatte.

Aber McGrath gab ihr sozusagen ihre Karriere zurГјck. Und das auf einem Silberteller. Sie musste zusagen.

„Das sollte in Ordnung sein, Sir.“

„In Ordnung reicht nicht, White. Hören Sie … ich gebe Ihnen und Ellington zehn Minuten, um darüber zu sprechen. Aber ich brauche einen Agenten, der spätestens heute Abend um sieben im Flieger nach Seattle sitzt. In zweieinhalb Stunden geht ein Flug.“

„Okay. Ich rufe gleich zurück.“

Sie beendete den Anruf und sah, dass Ellington sie beobachtete. Der Arzt hatte damit begonnen, den nassen Gips auf seinen Arm aufzutragen und wickelte die Lagen um das geschwollene, verfärbte Handgelenk. Ellingtons Blick verriet ihr alles, was sie wissen musste. Er hatte zumindest einen Teil der Unterhaltung mitangehört und noch nicht entschieden, wie er dazu stand.

„Also, wo ist es?“, fragte Ellington. „Das ist das einzige, was ich nicht verstehen konnte.“

Er grinste sie an und sie wusste, dass er das gesamte Telefonat gehört hatte. Sie witzelten oft, wie unglaublich laut McGrath am Telefon war.

„Seattle. Ich würde heute Nachmittag oder Abend losmüssen.“ Sie sah Kevin an und schüttelte den Kopf. „Aber ich kann dich nicht mit ihm alleine lassen … nicht mit einem gebrochenen Arm.“

„Mac, ich kann sehen, wie gerne du annehmen möchtest. Kevin und ich kommen schon klar.“

„Liebling, du kannst seinen Windeln ja kaum mit zwei Händen wechseln.“

Er nickte. Obwohl sie scherzte, verstand er ihr Argument. Doch er schien einen Gedanken zu haben. Eine Weile schwiegen sie beide. Lediglich das Anlegen der nassen Gipslagen störte die Stille. Auch der Arzt schwieg und gab sich Mühe, ihre seltsame Situation zu respektieren.

„Weißt du was?“, sagte Ellington. „Meine Mutter hat schon mehrmals gefragt, wann sie mal wieder Zeit mit Kevin verbringen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sofort ja sagen würde. Du hast doch nicht vergessen, wie sehr sie das Gefühl liebt, den Tag gerettet zu haben?“

Mackenzie dachte darüber nach. Sie und Ellington hatten beide keine einfache Beziehung zu ihren Müttern. Doch seitdem sie ihnen einen Enkel geschenkt hatten, waren Wunder geschehen. Und ja, es war egoistisch, aber seine Mutter zu Besuch zu haben, wenn sie selbst nicht vor Ort war, wäre prima. Mackenzie gab zwar vor, sie zu mögen, wenn sie in der Nähe war, doch auch Ellington wusste, dass seine Mutter und Mackenzie aneinander aneckten.

„Hat sie überhaupt Zeit?“

„Wir sprechen von meiner Mutter“, sagte Ellington. „Was könnte sie sonst vorhaben? Außerdem hat der Kleine sie längst um den Finger gewickelt. Selbst wenn sie etwas anderes vorhätte, würde sie das für ihn nur zu gerne ausfallen lassen. Ich ruf sie an. Und du gibst McGrath Bescheid.“

Bevor sie etwas entgegensetzen konnte, zog Ellington bereits mit seinem gesunden Arm das Handy aus der Tasche. Der Arzt sah ihn streng an und unterbrach das Eingipsen.

Mackenzie rief McGrath ebenfalls an. Während das Telefon klingelte, sah sie Kevin an. Er war damit beschäftigt, seinen Vater anzusehen und zu lächeln. Obwohl ihr Herz bereits vor Aufregung klopfte, so plötzlich wieder zu arbeiten, bereitete es ihr auch Sorgen, wie es sein würde, so weit weg von ihrem Baby zu sein. Vermutlich würde sie sich oft in dieser Lage befinden, solange sie zwischen ihren zwei großen Lieben – der Arbeit und der Familie – stand.

Und jetzt, wo ein frischer Fall auf der anderen Seite des Landes auf sie wartete, wusste sie, dass sie sich an dieses Gefühl auch nie wirklich gewöhnen würde.




Kapitel drei


Der Abschied fiel Mackenzie schwerer, als erwartet. Es half nicht, dass ihr Mann einen frischen Gips hatte und ihre Schwiegermutter noch nicht angekommen war, als sie das Haus bereits verlassen musste. Kevin hielt zum Glück gerade seinen Mittagsschlaf. Sie wusste, dass er noch mindestens eine weitere Stunde schlafen und Ellingtons Mutter bis dahin hoffentlich eintreffen würde. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre Familie im Stich zu lassen. So ähnlich hatte sie sich beim letzten Fall gefühlt, doch dieses Mal traf es sie härter. Dieses Mal war sie selbstbewusster in ihrer Rolle als Mutter und kannte die Kraft, die sie und Ellington gemeinsam hatten.

„Es wird alles gut gehen“, versicherte Ellington ihr, als er sie zur Tür brachte. „Meine Mutter ist absolut überwältigend, sie wird sich zu gut um Kevin kümmern. Und um mich. Gott, sie wird es genießen. Und vielleicht nie wieder gehen.“

„Das hilft nicht gerade.“

Ellington küsste sie auf den Mund. Es war ein Kuss, der noch länger auf ihren Lippen verweilte. Sie hatte sich in den letzten Monaten zu sehr daran gewöhnt. Manche würden sogar sagen, sie sei verwöhnt.

„Geh“, sagte er, während er ihr mit tiefgründiger Leidenschaft in die Augen sah. „Verlier dich für eine Weile in der Arbeit. Ich denke, das wird dir guttun. Wir werden hier sein, wenn du zurückkommst.“

Er gab ihr einen Klaps auf den Po, um die Ernsthaftigkeit seiner Stimme zu verdrängen. Sie liebten einander mit aller Kraft und das wussten sie. Aber keiner von beiden, und vor allem nicht Ellington, war je besonders gut darin gewesen, das auszudrücken.

Sie küssten einander noch ein letztes Mal und dann war Mackenzie im Flur und die Tür hinter ihr schloss sich. Sie hatte einen Rollkoffer bei sich, der klein genug war, um als Handgepäck durchzugehen. Sonst nichts. Langsam ging sie zum Fahrstuhl. Sie war mehr als bereit, zur Arbeit zurück zu kehren, aber vermisste ihre Familie jetzt schon.


* * *

Im Flugzeug versuchte sie, einen Film anzusehen, aber schlief, zu ihrer Überraschung, bereits nach fünfzehn Minuten ein. Als sie aufwachte, kündigte der Pilot gerade an, dass sie bereits im Landeanflug auf Seattle waren und sie hatte das Gefühl, man hätte ihr Zeit gestohlen. Auf der anderen Seite war sie sich nicht sicher, wann sie zum letzten Mal ein Nickerchen gemacht hatte. Obwohl sie sich in einem Flugzeug befand, war es angenehm gewesen.

Sie fragte sich, ob die Schuldgefühle, die das Nickerchen ausgelöst hatte, von ihren Gehirnbereichen Ehefrau, Mutter oder beiden zusammen getriggert worden waren.

Als das Flugzeug landete, war es 20.31 Uhr Ortszeit und der Himmel bewölkt. Ihr Flug war bereits in Washington DC um eine Stunde verspätet gewesen und ihre Ankunft in Seattle fand nun zu einer Uhrzeit statt, die sie dazu brachte, den Ermittlungsstart auf den nächsten Tag zu verschieben.

Sie sprach mit dem stellvertretenden Direktor des Regionalbüros, der sie tatsächlich anwies, sich direkt am nächsten Morgen mit einem Agenten am Tatort zu treffen. Ihr wurde der Name des Agenten – Ryan Webber – mitgeteilt und dann gefragt, ob sie alle aktuellen Informationen erhalten hatte. Sie bestätigte, die Unterlagen von Direktor McGrath in Washington in Empfang genommen zu haben. Als sie ihren Koffer auf die Rückbank des Mietwagens legte, waren sämtliche Formalitäten abgehakt.

Es war ein seltsames Gefühl, das sie nicht wirklich beschreiben konnte. Als sie den Wagen startete, überrollte sie eine Welle der Freiheit, die sie seit Kevins Geburt nicht mehr verspürt hatte. Sie realisierte, dass sie es wirklich schaffen und Familie und Karriere erfolgreich balancieren konnte. Sie war voller Aufregung (und vielleicht etwas Nervosität, aber nur von positiver Natur), den Fall anzupacken und störte sich sogar daran, bis zum Morgen warten zu müssen. Aber sie wünschte sich auch, Ellington bei sich zu haben. Sie nahm an, dass Tom Brady sich so fühlen musste, wenn er nicht von Bill Belichick trainiert wurde …

Guter Gott, Ellington färbt bereits auf mich ab, dachte sie und wischte den Vergleich weg. Aber sie konnte nicht anders, als zu lächeln.

Der Gedanke trieb sie an, schnell ins Motel zu kommen, um Ellington und Kevin über FaceTime anrufen zu können.

Doch vor allem musste sie auch damit beginnen, wie eine Agentin zu denken. Es fГјhlte sich ungeheuer komisch an, sich daran erinnern zu mГјssen. Auf dem Weg zum Parkplatz des Mietwagenverleihs hatte sie bereits die Unterlagen von McGrath durchgesehen und sich mit dem BГјro in Seattle in Verbindung gesetzt.

Sie wusste auch, dass sie weitere Unterlagen zur Durchsicht bekommen hatte. McGrath und sein Assistent hatten ihr versprochen, ihr bis 18 Uhr Ostküstenzeit alles Wissenswerte per E-Mail zu schicken. Sie freute sich auf die Unterlagen, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie sich am nächsten Tag mit dem zuständigen Agenten treffen würde. So besorgte sie sich die Einzelheiten eines Falles am liebsten: Unzensiert und unkommentiert.

Sie checkte knappe zehn Kilometer vom Flughafen in ein Motel ein und verlor keine Zeit. Noch bevor sie den Koffer auch nur geöffnet hatte, saß sie auf dem Bett, um Ellington anzurufen. Fast sofort antwortete er und sein Gesicht erfüllte den Bildschirm. Auch Kevin, der auf Ellingtons Schoss saß, was teilweise sichtbar. Kevin schien jedoch mehr daran interessiert zu sein, das Kinn seines Vaters zu erforschen.

„Hey Jungs“, sagte Mackenzie. „Ich habe es geschafft, ich bin in Seattle.“

„Gut“, sagte Ellington. „Ich werde den Kleinen bald ins Bett bringen. Er durfte heute etwas länger aufbleiben, damit er dich sehen kann, aber wie du siehst, hat er eine wichtige Angelegenheit mit meinem Kinn zu klären.“

„Kevin … hey Liebling.“

Langsam drehte sich ihr Sohn um und entdeckte ihr Gesicht auf dem Bildschirm. Sein kleiner Mund verwandelte sich in ein Lächeln und er klatschte gegen das Handy.

„Na endlich“, sagte Ellington. „Sag Gute Nacht zu Mommy.“

Die restlichen fГјnf Minuten der Unterhaltung waren, so Mackenzies Vermutung, die albernsten und lustigsten ihres Lebens. Doch am Ende des Anrufs fГјhlte sie sich gut, kraftvoll und bereit, den Fall in Angriff zu nehmen.

Mit dem Gedanken schaltete sie den Laptop ein und richtete sich einen kleinen Arbeitsplatz her. Sie bestellte chinesisches Essen, holte sich eine Soda aus dem Getränkeautomaten im Flur und verbrachte die nächsten Stunden damit, die Fallunterlagen zu studieren. Es gab nicht so viel wie erwartet, aber was sie las, war gerade dunkel genug, um den Regen draußen eine unheilvolle Aura zu geben.

Es gab zwei Opfer, die beide auf fast identische Weise umgebracht worden waren. Der größte Unterschied war, dass der jüngste Mord hier in Seattle stattgefunden hatte – der andere in Portland, Oregon. Die beiden Städte lagen weniger als drei Stunden voneinander entfernt, es war also nicht unmöglich, vor allem da vier Tage zwischen den beiden Fällen gelegen hatten.

Der jüngste Tatort befand sich in einem Parkhaus knapp zehn Kilometer von ihrem jetzigen Standort entfernt. Beim Opfer handelte es sich um die dreiundzwanzigjährige Sophie Torres, die Teilzeit als Kellnerin und als Model gearbeitet hatte. Erster Tatort war ein kleiner, öffentlicher Park in Portland gewesen. Das Opfer, Amy Hill, war in einem kleinen Brunnen gefunden worden. Sie war, wie Sophie Torres, mit einem harten Objekt im Gesicht getroffen worden. Es war zuerst unklar gewesen, ob die Schläge die Todesursache gewesen waren oder ob sie ertrunken war, da die Autopsie auch Anzeichen dafür lieferte.

Mackenzie machte sich einige Notizen, um Ähnlichkeiten und Unterschieden der Fälle festzuhalten. Es waren die Ähnlichkeiten, die am hervorstechendsten waren. Bei beiden Opfern handelte es sich um junge Frauen, die in den Augen der meisten Männer als gutaussehend betrachtet werden konnten. Sie waren beide ins Gesicht geschlagen worden, die Wunden und Blutergüsse ähnelten einander. Laut Fallakten nahmen die Forensiker an, dass in beiden Fällen ein Hammer verwendet worden war. Aufgrund der seltsamen Waffenwahl, dem Alter und dem Geschlecht der Opfer, wurden beide Morde als Arbeit derselben Person betrachtet.

Hätten sich die Morde in derselben Stadt zugetragen, würde auch Mackenzie keine Zweifel hegen. Aber die dreistündige Entfernung und die Tatsache, dass Sophie Torres direkt vor ihrem Wagen umgebracht worden war, riefen bei Mackenzie Fragen auf.

Als sie die verfügbaren Unterlagen gelesen und ihr Hähnchen Süß-Sauer samt Pepsi verschlungen hatte, wandte sie sich wieder ihren eigenen Notizen zu. Es gab nicht genug, um ein bedeutsames Profil zu erstellen, sie würde also am nächsten Tag tiefer graben müssen. Die E-Mail von McGrath verriet ihr, dass sie mit einem Agenten des Büros in Seattle zusammenarbeiten würde und ihn um acht Uhr am jüngsten Tatort treffen sollte. Obwohl ihr das nicht gefiel, hatte sie Verständnis dafür. Sie hoffe nur, mit jemandem zusammen zu arbeiten, der ihr gegenüber nicht stur oder aufsässig war, weil sie aus DC kam.

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie sich entschied, Feierabend zu machen. Sie duschte und lag noch vor 23 Uhr im Bett. Doch ihr voller Kopf erlaubte es ihr nicht, vor Mitternacht einzuschlafen. Immer wieder glaubte sie, von Kevins Weinen geweckt zu werden, da dieser noch immer mindestens ein Mal pro Nacht gewickelt werden musste.

Doch das Hotelzimmer blieb ruhig und das einzige Geräusch stammte von dem prasselnden Regen draußen. Endlich nickte sie ein und die leere Betthälfte neben ihr irritierte sie nur ein bisschen. Ja, sie vermisste Ellington, aber sie glaubte, dass es gut war, sich hin und wieder etwas Raum zu gönnen. Als sie endlich einschlief, war es ein fester Schlaf und zum ersten Mal seit etwa acht Monaten schlief sie durch.




Kapitel vier


Mackenzie war erst einmal in Seattle gewesen und zwar für eine zweitägige Konferenz. Damals war es sonnig gewesen und der Himmel blau. Sie hatte geglaubt, dass das alte Klischee des immer verregneten Seattles unverhältnismäßig sei. Doch als sie an diesem Morgen aufwachte und kurz nach sieben Uhr das Motel verließ, war der Himmel wolkenverhangen und es regnete so leicht, dass es kaum als Nieselregen bezeichnet werden konnte. Doch die Luft fühlte sich nass an und eine dünne Schicht Nebel schien alles zu umgeben. Es war kein Problem, zu verstehen, warum eine Musikrichtung mit dem Namen Grunge aus einer Stadt wie dieser stammte.

Im Starbucks gegenüber holte sie sich einen Kaffee und fuhr dann zum Parkhaus, wo Sophie Torres ermordet worden war. Es befand sich in einem Teil der Stadt, der nicht vom Berufsverkehr verstopft war und, so vermutete sie, zwischen dem Gebiet um Downtown und der geschäftigeren Seite der Stadt beherbergt zu sein schien.

Als sie dort ankam, fuhr sie mit ihrem Wagen in die hintere Reihe der zweiten Parkebene – genau wie in den Fallunterlagen beschrieben. Sie erkannte einen schwarzen Crown Vic, der horizontal vor dem Parkplatz stand, um diesen abzusperren. Ein Mann stand an die Motorhaube gelehnt. Hin und wieder nippte er an seinem Kaffee, während er in die Leere starrte.

Mackenzie fand den nächstbesten Parkplatz und stieg aus. Der Mann drehte sich zu ihr, lächelte und drückte sich dann vom Wagen weg.

„Agent White?“, fragte er.

„Das bin ich“, sagte Mackenzie.

„Wie schön, dich kennen zu lernen. Ryan Webber, zu Diensten.“

Als sie sich mit Handschlag begrüßten, bemerkte Mackenzie, dass sein Lächeln sie etwas abschreckte. Sein Blick hielt ihr Gesicht fest und sein breites Grinsen erinnerte sie an Heath Ledgers Joker-Portrait. Webber schien Ende zwanzig zu sein, genau wie sie. Er wirkte geschniegelt, sein dunkles Haar passte zum Schnitt des Anzugs im FBI-Stil. Er war zurechtgemacht und spielte seine Agenten-Rolle gut. Ja, er schien das perfekte Abbild der männlichen Agenten zu sein, die man üblicherweise im Fernsehen zu sehen bekam.

„Sorry“, sagte Webber. „Ich sollte das vermutlich gleich loswerden: Ich bewundere dich unheimlich und verfolgte deine Karriere schon bevor du zum FBI gewechselt bist. Der Vogelscheuchen-Killer … alles. Ich hatte an der Akademie eine Gruppe von Freunden und … naja, du warst wie eine Art Rockstar für uns. Und als du zum FBI beordert wurdest, hatten wir auch das Gefühl, es schaffen zu können. Weißt du, was ich meine?“

Mackenzie spürte, wie sie rot wurde, aber sie kämpfte dagegen an. Manchmal vergaß sie, wie bekannt sie mit manchen ihren Fällen geworden war. Ganz zu schweigen von ihrem eher unorthodoxen Einstieg beim FBI, der definitiv bewundernswert war.

„Nun, das weiß ich zu schätzen. Und ja, ich hatte großes Glück. Aber das ist alles Schnee von gestern. Heute bin ich wie jeder andere Agent. Dieselbe Arbeitsmenge, dieselben Regeln, dasselbe Leben. Verheiratet, ein Kind.“

„Wow. Du hast Kinder?“ Er schien es kaum glauben zu können. Mackenzie war sich nicht sicher, warum er wie ein Kind aussah, der gerade die Wahrheit über den Weihnachtsmann herausgefunden hatte.

„Bisher nur das eine.“ Die Unterhaltung schien eine seltsame Richtung anzunehmen, also sah sie an ihm vorbei zum Parkplatz. „Ist das der Tatort?“

„Genau“, sagte er. „Hast du Zugang zu allen Fallakten bekommen?“

„Das habe ich“, antwortete sie.

Webber öffnete die Fahrertür seines Wagens und zog ein iPad aus der Mittelkonsole. Er öffnete die digitalen Kopien der Unterlagen – dieselben, die Mackenzie am Abend zuvor gelesen hatte – und ging auf den Parkplatz zu.

„Gibt es Neuigkeiten? Oder vergrabene Infos, die die offiziellen Akten nicht beinhalteten?“, fragte Mackenzie.

„Nun, ich weiß, dass die Akten indizieren, dass sie vermutlich nicht ausgeraubt wurde. Wir haben jetzt die Info, dass das definitiv nicht der Fall war. Wir haben ihre Bankkonten und Kreditkarten durchleuchtet, um sicherzugehen, dass in ihrer Handtasche nichts fehlte. Es hat außerdem keine Geldabhebungen oder anderweitig verdächtigen Aktivitäten bezüglich ihrer Sozialversicherungsnummer oder anderen Kontoinformationen gegeben. Wenn sie also ausgeraubt worden war, hält der Killer an seinem Diebstahl fest.“

„Genau wie in Portland?“

„Scheint so“, sagte Webber. „Es gab keine Anzeichen dafür, dass Amy Hill etwas abhandengekommen ist und auch ihre Kontodaten sind unverdächtig.“

„Hattest du bereits die Möglichkeit, dir die Leiche anzusehen?“

„Nein, noch nicht. Wir haben erst gestern spätnachmittags das Okay vom Gerichtsmediziner gekriegt. Aber ich denke, dass uns die Fotos vom Tatort alles sagen, was wir wissen müssen.“

„Ja. Und ich denke, dass die Vermutung stimmt, dass ein Hammer als Tatwaffe verwendet wurde.“

„Ah, aber es gibt nun Beweise, dass das erste Opfer mit einem Eichenast angegriffen wurde.“

„Das klingt … wahllos.“

„Das dachte ich auch. Aber die Beweise sind da. Risse in der Haut, die beim zweiten Opfer nicht zu erkennen sind und Holzspuren in den Wunden, die sich als Eiche herausstellten. Oh, hey – gestern Abend haben wir eine Überwachungskamera gefunden, eineinhalb Häuserblöcke weiter, die eine vermummte Person bei der Verfolgung unseres Opfers zeigt. Ich habe einen Blick auf die Aufnahmen geworfen und sie geben leider nicht viel her. Eine Person in einer Regenjacke mit Mütze bekleidet, die Ms. Torres von ihrem Arbeitsplatz, dem Imbiss, bis hierher zum Parkhaus gefolgt ist. Was mich angeht, gibt es keinen Zweifel, dass es sich bei der vermummten Person um den Mörder handelt, aber das Video gibt nicht mehr her als die verdammte Regenjacke.“

Mackenzie war leicht irritiert, dass all diese Informationen in den Unterlagen, die sie erhalten hatte, fehlten. Aber ihr war bewusst, dass das BГјro nichts fГјr spontan entdeckte Fakten konnte.

„Wer hat die Aufnahmen gemacht?“

„Sie stammen aus einem Pfandleihhaus. Der Besitzer scheint ziemlich cool zu sein. Er meinte, ich kann erneut vorbeikommen, wenn nötig, aber das Büro hat auch bereits eine Kopie der Überwachungsaufnahmen vorliegen.“

Mackenzie ging um Webbers Crown Vic herum und betrachtete den Parkplatz. „Weiß man, wie lange ihr Wagen hier war, bis er bewegt wurde?“, fragte sie.

„Die Stadt hat ihn gestern abgeschleppt. Die Forensiker haben ihn davor jedoch gründlich durchsucht. Der einzige, erwähnenswerte Fund war Torres� Blut am Türrahmen.“

Mackenzie beäugte den leeren Platz. Außer einigen alten Ölflecken und Zigarettenstummeln konnte sie nichts sehen. Kein Blut, keine Haare oder Fasern.

„Wir haben im Büro Zugang zur Videoüberwachung, nicht wahr?“

„Ja, und die upgedateten Fallakten. Wie du bestimmt weißt, kommen viele Infos erst nach Feierabend rein. Ich weiß nicht, wie aktuell die Infos waren, die du erhalten hast.“

Das breite Grinsen war zurГјck. Und obwohl er sie keinesfalls begaffte, betrachtete er sie doch mit undurchdringlichem Blick. Er ertappte sich dabei und schien eine Art Fluchtreflex abzuschГјtteln. Er schГјttelte den Kopf, als wolle er sich einen klaren Kopf verschaffen.

„Tut mir leid. Ich … ähm, ich versuche immer noch, die Tatsache zu akzeptieren, dass du hier bist. Und ich mit dir arbeiten darf.“

„Es ist keine große Sache“, sagte Mackenzie. „Glaub mir.“

„Bescheiden. Ich verstehe. Aber ob es dir gefällt oder nicht – du bist eine Art Legende für all diejenigen, die in den letzten drei Jahren auf der Akademie waren.“

Seine Worte schmeichelten ihr. Egal, wie bescheiden jemand auch sein mochte, war es immer schön, positive Dinge über sich selbst zu hören. Es war auf jeden Fall ermutigend. Aber sie fühlte sich definitiv nicht wie eine Legende. Wenn Webber ihre Selbstzweifel oder Ängste, die immerzu in ihrem Herzen weilten, kennen würde, hätte er ein anderes Bild von ihr. Das war ihr Hauptgrund, ihn davon abzuhalten, ihr Loblied zu singen und stattdessen die Klappe zu halten.

„Ich würde gerne sehen, wo die Person auf dem Überwachsungsvideo gelaufen ist“, sagte sie.

„Sicher. Sollen wir fahren oder gehen? Es sind nur zwei Blocks.“

„Dann laufen wir.“

Webber schien kein Problem damit zu haben und entschied, mit seinem Wagen weiterhin den Tatort abzuschirmen. Die Agenten verlieГџen das Parkhaus und traten hinaus ins Tageslicht. Webber brachte sie zum Pfandleihhaus, wo die Гњberwachungskamera positioniert war, die die Person in Regenjacke aufgenommen hatte.

Der Laden war zu so früher Stunde noch geschlossen, aber Mackenzie schien das nicht zu stören. Um ehrlich zu sein, würde sie das Video viel lieber an einem Laptop anschauen, den sie kontrollierte, statt im Pfandleihhaus, wo der Besitzer sich mit seinen Geräten besser auskannte als sie.

„Der Blickwinkel des Videos zeigt ziemlich gerade die Straße runter“, sagte Webber. „Das Parkhaus ist außer Sichtweite, wir sehen also nicht, wie er es betritt.“

Sie gingen langsam die Straße entlang. Mackenzie sah sich auf dem Gehweg um und betrachtete die Schaufenster, unsicher, wonach sie suchte. Sie entdeckte eine Seitengasse, doch die war abgesperrt. Sie drehte sich um und suchte nach anderen Orten, wo die Person sich hätte verstecken können.

Als könne er ihre Gedanken lesen, zeigte Webber auf eine Stelle drei Häuser weiter. „Dort drüben gibt es eine Seitengasse. Die habe ich mir gestern angesehen. Ich habe nichts gefunden, aber unser Täter hat möglicherweise dort auf Ms. Torres gewartet.“

Gemeinsam gingen sie zum ‚Sixteenth Street Diner�. Vom vorderen Eingang aus war das Parkhaus gut sichtbar; es lag lediglich einen Häuserblock entfernt. Mackenzie betrachtete die Tür des Imbisses. Der schwere Geruch von Speck und Kaffee wehte in ihre Richtung.

„Hattest du die Gelegenheit, dich mit ihren Arbeitskollegen zu unterhalten?“, fragte Mackenzie. Sie verspürte den Drang, den Diner zu betreten, um selbst nach Informationen zu suchen, aber sie hatte noch nie befürwortet, eine Arbeit zwei Mal zu erledigen. Wenn Webber zufriedenstellende Arbeit geleistet hatte, gab es keinen Grund für sie, die Befragung zu wiederholen.

„Ja. Vier Angestellte inklusive ihres Vorgesetzten. Steht alles in den Notizen. Ehrlich gesagt kam dabei aber nur wenig raus. In einigen Fällen mussten ein paar Typen wegen unangemessenen Grapschens aus dem Imbiss geleitet werden. Niemand redet schlecht von Ms. Torres, aber es war klar, dass einige ihrer Kolleginnen neidisch auf sie waren. Eine hat sogar behauptet, sich immer Sorgen um einen solchen Vorfall gemacht zu haben. Anscheinend hat Ms. Torres ihr ausladendes Dekolleté und ihre kurzen Lederröcke eingesetzt, um gutes Trinkgeld zu kassieren. In Establishments wie diesem ist diese Art von Dresscode zu späten Stunden okay.“

Sie setzten ihre Unterhaltung fort, bis sie wieder am Parkhaus angelangt waren. Mackenzie hatte nichts Nennenswertes gesehen, aber gleichzeitig das Gefühl, sowohl Opfer als auch Killer nun besser zu kennen, indem sie denselben Weg gegangen war und damit zumindest Ms. Torres� letzten Schritte verfolgen hatte können.

Auf dem Weg zu ihren Autos meinte Webber: „Möchtest du dir noch mehr ansehen oder sollen wir uns an die Unterlagen machen?“

„Ich denke, wir können direkt zum Büro fahren“, sagte Mackenzie. „Insofern ich nichts Offensichtliches übersehen habe, glaube ich nicht, dass es hier etwas gibt, was von den Forensikern nicht bereits katalogisiert wurde.“

„Da stimme ich zu. Du kannst mir hinterherfahren.“

Mackenzie ging zurück zu ihrem Wagen und verdrehte die Augen über Webbers jungenhafte Aufregung, die er beim Einsteigen in sein Auto demonstriert hatte. Es war schon eine Weile her, seitdem jemand sie an ihre Vergangenheit und die Geschichte erinnert hatte, wie sie so zügig die Karriereleiter vom Kleinstadtcop zum legendären FBI-Agenten erklommen hatte. Es war schön, einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen; eine Erinnerung daran, wo sie herkam und was sie bereits erreicht hatte.

Aber all das lag nun in der Vergangenheit. Als sie an die Frau dachte, die sie einmal gewesen war, fГјhlte es sich an, als versuche sie sich an die Handlungen und Eigenschaften einer Fremden zu erinnern.

Vielleicht ist das die Erinnerung, die ich brauche, um wirklich wieder in den Sattel zu steigen, dachte Mackenzie. Aber selbst als sie Webber aus dem Parkhaus in die Stadt folgte, war die Vorstellung, sich an den Vogelscheuchen-Mörder und ihr chaotisches Privatleben zu erinnern, vielmehr wie ein Schritt in ein Geisterhaus. Ein Haus, dessen Türen jemand von außen verschlossen hatte.




Kapitel fГјnf


Webber zeigte ihr ihr temporäres Büro – eine Räumlichkeit so groß wie ein geräumiger Kleiderschrank. Er installierte ihren Laptop und versorgte sie mit den Ausdrucken all der Unterlagen der beiden Mordfälle. Er bot sogar an, ihr Kaffee und einen Donut zu bringen – begierig, alles zu tun, um ihr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Sie wünschte sich, er würde damit aufhören, da er sich bereit jetzt mehr wie ein Assistent als ein Agent benahm. Wenn er nicht bald damit aufhörte, würde sie mit ihm reden müssen.

Zum Glück gab es keine neuen Erkenntnisse, die sie durchforsten mussten. Die Informationen, die ihr nach dem Durchlesen der Akten am vergangenen Abend noch gefehlt hatten, waren von Webber bereits im Parkhaus geklärt worden. Zuerst sah sie sich nun den Bericht des Gerichtmediziners im Fall des ersten Opfers, Amy Hill aus Portland, an. Sie las den Bericht und sah schnell, wie man zu der Schlussfolgerung gekommen war, dass sie mindestens vier Mal mit einem Eichenast geschlagen worden war – direkt gegen die Augenbraue und einmal auf den Hinterkopf. Beim Betrachten der Wunde und der Lektüre der Akte fragte sie sich, wie jemand überhaupt davon hatte ausgehen können, dass die Verletzungen durch einen Hammer herbeigeführt worden waren.

Dann bat sie um Zugang zu den Aufnahmen der Videokamera des Pfandleihhauses. Sie sah sich die Aufnahmen mehre Male an und verbrachte etwa eine halbe Stunde damit, denselben Achtzehn-Sekunden-Film wieder und wieder anzusehen. Da nur eine einzige Kamera für die Aufnahme zuständig gewesen war, konnte sie das Video aus nur einer Perspektive betrachten. Trotzdem reichte es aus, zu erkennen, dass die Person, die hinter Sophie Torres aufgetaucht war, ihr Bestes gegeben hatte, ihr ungesehen zu folgen. Die gesamte Szene war an den Rändern verschwommen, vermutlich ein Ergebnis des Regens, der in jener Nacht gefallen war.

Sie konnte kein Stückchen Haut erkennen. Selbst die Hände der Person steckten in den Taschen der Regenjacke. Er ging mit entschlossenem Schritt, gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern. Nicht einmal sah er nach hinten, um zu sehen, ob jemand ihm folgte. Nachdem Mackenzie das Video elf Mal angesehen hatte, schloss sie die Datei und sah weg. Die Aufnahme brachte keine neuen Erkenntnisse.

„Haben wir den Wetterbericht von Portland in der Nacht von Amy Hills Tod?“, fragte Mackenzie.

„Ich glaube nicht“, sagte Webber. „Aber ich kann problemlos einen besorgen. Denkst du, dass das Wetter etwas mit dem Vorgehen des Täters zu tun haben könnte?“

„Keine Ahnung. Aber im Moment suche ich einfach nach allen Ähnlichkeiten, die ich finden kann.“

„Verstehe“, sagte Webber und zog sein Handy heraus wie ein lustloser Revolverheld. Er klickte und scrollte, während Mackenzie die Tatortbilder vom Fall Amy Hill heraussuchte. Da ihre Leiche an einem öffentlichen Brunnen gefunden worden war, war es unmöglich, anhand der Bilder zu erkennen, ob es zum Zeitpunkt ihres Todes geregnet hatte.

„Soweit ich hier erkennen kann“, sagte Webber und zeigte ihr Portlands Wetterbericht der letzten sieben Tage, „war der Himmel zur Tatnacht klar. Kein Regen.“

„Der Bericht indiziert, dass sie zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens umgebracht wurde“, meinte sie, als sie die Informationen der Akte zum vierten Mal durchlas. „Das ist in etwa dasselbe Zeitfenster, in dem auch Sophie Torres ermordet wurde. Und wenn ich nichts übersehen habe, ist das die einzige Ähnlichkeit.“

„Nun, das und die Tatsache, dass beide am Kopf getroffen wurden“, erwiderte Webber. „Sicher, wir wissen, dass es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Waffen handelte, aber dennoch war es ein Schlag gegen den Kopf. Das ist nicht viel, aber …“

Sie bemerkte, dass er zögerlich sprach, als fürchte er, sie könnte ihn korrigieren oder anderer Meinung sein. Sie fragte sich, ob er mit jedem Agenten-Partner so agierte oder ob es wirklich sie war, die diese Wirkung auf ihn hatte. Wenn letzteres zutraf, hätte sie Mitleid mit ihm. Sie verdiente es nicht, so ehrfürchtig behandelt zu werden. Vermutlich waren ihr erstes Jahr und vor allem der plötzliche Übergang vom Kleinstadtcop zum FBI-Agenten einige Zeitungsüberschriften wert gewesen. Aber jetzt fühlte sie sich wie jeder andere Agent. Sie war verheiratet, hatte ein Kind und war häuslich geworden. Und während sie ihre Familie und ihren Job sehr liebte, hatte sie nicht das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

„Wir müssen herausfinden, ob es eine Verbindung zwischen den Opfern gibt“, sagte Mackenzie. „Wissen wir, ob jemand mit der Familie Hill gesprochen hat?“

„Niemand von hier. Wir haben nur einen Bericht der Polizei in Portland. Das Ergebnis war unauffällig: Kein Ärger mit der Familie, keine Sorgen mit dem Freund, keine Alarmglocken.“

„Und was ist mit Sophie Torres?“

„Auch in dem Fall hat nur die örtliche Polizei mit der Familie gesprochen. Mir wurde angewiesen, nicht vor deiner Ankunft in der Hinsicht zu handeln.“

„Nun, ich bin hier“, sagte Mackenzie und stand auf.

„Das bist du“, stimmte Webber zu. Seine Stimme wies darauf hin, dass er möglicherweise versuchte, mit ihr zu flirten. Sie fühlte sich etwas unwohl, aber nicht unwohl genug, um etwas zu sagen und die Situation für alle unangenehm zu machen.

„Du kennst die Stadt besser als ich“, sagte sie. „Macht es dir etwas aus, zu fahren?“

„Überhaupt nicht.“

„Webber, darf ich dich etwas fragen? Hast du je dauerhaft mit einem Partner zusammengearbeitet?“

„Mit meinem letzten Partner waren es eineinhalb Jahre. Dann wurde er nach Denver versetzt. Davor habe ich immer nur kurzzeitig mit anderen Agenten gearbeitet. Aber ich weiß, warum du fragst. Mir wurde gesagt, dass ich etwas sonderbar rüberkomme. Und ja – das Wort, genau das Wort, wurde verwendet. Aber es ist keine Bezeichnung, die ich jemals verwenden würde.“

„Ich würde nicht sonderbar sagen“, meinte sie. „Du scheinst … nun, du scheinst den Job ein bisschen zu sehr zu genießen. Aber nicht auf besessene oder grüblerische Art und Weise. Eher wie ein Kind, das mit seinem Dad zur Arbeit gegangen ist … und der Dad arbeitet mit Sprengstoffen oder ist ein Football-Spieler oder so.“

Sein Lachen machte ihn in ihren Augen sympathischer. Es war ehrlich und vermutlich ihr erstes Mal, ein wahrhaftiges, ungestelltes Wiehern zu hören.

„Ich bin mir sicher, dass darin indirekt eine Beleidigung steckt, aber das stört mich nicht“, sagte er. „Denn weißt du was – genauso fühle ich mich manchmal. Ich mag das Geheimnisvolle. Die Puzzles, das Rätsellösen und alles. Und, wie gesagt, die Tatsache, mit dir zusammen arbeiten zu dürfen …“

„Bedeutet absolut nichts“, unterbrach Mackenzie ihn. „Hör zu, Webber. Ich bin froh, mit dir zu arbeiten und denke, dass wir den Fall schnell lösen können. Und so gerne eine Frau auch hört, wie wundervoll sie ist, bitte ich dich doch, genau das sein zu lassen. Soweit ich weiß, bin ich nicht besser als du. Also sollten wir auf einer Ebene agieren, okay? Ich bin nicht deine Vorgesetzte und will deine Ideen und Gedanken hören. Unsere Vorgesetzten dürfen uns dann loben, wenn wir den Fall abgeschlossen haben. In Ordnung?“

Webber wirkte zuerst verwirrt, doch dann nickte er langsam. „Ja, das ist in Ordnung. Es tut mir leid. Mir war nicht bewusst, dass ich mich noch immer wie ein Fanboy verhalten habe.“

„Kein Problem. Einem Teil von mir gefällt das ja sogar. Aber das ist nicht der Teil, der gut darin ist, Verbrechen aufzuklären.“

Webber hatte dem scheinbar nichts entgegenzusetzen. Er winkte ihr lediglich zu, ihm zu folgen und zusammen verließen sie das Gebäude. Es war ein bewölkter Morgen und der Himmel drohte mit Regen.




Kapitel sechs


Er bereute es, keine Fotos gemacht zu haben. Der Anblick ihres Falles war ihm noch immer in frischer Erinnerung, genau wie die Delle in ihrem Kopf. Aber er wusste, dass Erinnerungen fehlerhaft sein konnten. Und er wusste, dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen würden. Selbst die besten wurden mit jedem Jahr schwächer.

Und diese Erinnerung wollte er nicht verlieren.

Außerdem war es sein erster Mord gewesen – und viel besser als erwartet.

Er hatte nur mit zwei Frauen geschlafen. Bei der ersten, einer Prostituierten, war er neunzehn gewesen. Er hatte ihr erklärt, Jungfrau zu sein und dass sie ihn hart drannehmen aber ihm auch ein paar Dinge beibringen sollte. Das hatte sie getan und es war eine unglaubliche Erfahrung gewesen.

Doch sein erster Mord war wesentlich besser gewesen als sein erstes Mal. Es war unvergleichlich.

Hätte wirklich ein Foto machen sollen.

Aber er wusste, dass das Fotografieren seiner Opfer ein dummer Akt wäre. Quasi eine Einladung, gefunden zu werden.

Er selbst saß an seinem Computer in seiner dunklen Wohnung, sah sich die Bilder von anderen Leuten online an und wunderte sich über deren Dummheit, solche Dinge zu posten. Es waren Bilder von Schussopfern, von Taxifahrern, die erstochen wurden, von Menschen, die tief gefallen waren. Auf einem Foto war ein Mann abgebildet, der von einem Humvee überfahren worden war. Selbst im Dark Web – so ziemlich das einzige Internet, das er derzeit nutzte – konnte die Regierung herausfinden, was man sich ansah oder selbst hochstellte.

Und obwohl es kein Verbrechen war, sich Materialien wie diese anzusehen, war es meistens illegal, sie zu posten. Und er wusste, dass die meisten Leute, die solche Dinge hochluden, Idioten waren, die geradezu darauf warteten, erwischt zu werden.

Nun, das stimmte wohl fГјr manche. Aber nicht fГјr ihn. Mit seiner Ausbildung und drei Jahren Erfahrung im Informatikbereich wusste er, wie er sich schГјtzen konnte. Die meisten Idioten wussten das nicht, doch das war nicht sein Problem.

Er betrachtete die Fotos auf dem Bildschirm. Die toten Menschen. Das Video des einen Opfers, das dem Tod nahe war – der einzige Hinweis darauf, dass es noch lebte, waren die kleinen, stockigen Atemzüge, die alle fünf Sekunden erfolgten. Dann waren da die Bilder von Menschen, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Und die Fotos des Mannes, der den Tod seiner Frau aufgenommen hatte, als er sie während dem Sex im Bett erstickte.

Vermutlich würden manche sagen, dass er krank im Kopf war, dass bei ihm etwas nicht stimmte. Er glaubte nicht, dass das der Fall war – aber wer weiß? Manche würden vielleicht annehmen, dass er ein furchtbares Kindheitstrauma erlitten, etwas Unmenschliches erfahren hatte, das ihn zu dem Menschen machte, der er war. Aber auch das stimmte nicht. Seine Kindheit war großartig gewesen und seine Eltern liebevoll. Noch immer sprach er mindestens einmal pro Woche mit ihnen und seine Mutter fragte sich noch immer, wann er sich endlich niederlassen würde, um zu heiraten und ihnen Enkelkinder zu schenken.

Seine Mutter hatte sich auch gefragt, was mit den drei Katzen geschehen war, die sie im Zeitraum von fГјnf Jahren besessen hatte. Er kannte die Antwort. Er hatte sie umgebracht. Und das auf unterschiedliche Art und Weise, um zu sehen, wie es sich anfГјhlte. Um zu sehen, wie das Leben aus ihren Augen verschwand.

Er hatte es nicht besonders genossen. Es hatte kaum einen Kampf gegeben und am Ende hatte es sich angefГјhlt, als erwГјrge er ein Stofftier.

Mit Sophie war es anders gewesen. Gott, das war ein fantastisches GefГјhl. Unbeschreiblich.

Also vielleicht, und nur vielleicht, stimmte mit ihm tatsächlich etwas nicht. Die meisten würden wohl sagen, dass das der Fall war, aber er hatte noch immer nicht das Gefühl, dass das stimmte.

Nein, nichts davon entsprach der Wahrheit. Ihm ging es gut. Er genoss es einfach nur, andere leiden zu sehen. Er genoss den Anblick sterbender Menschen.

Und ihm gefiel auch die Herausforderung. Denn das war es, was die Stimme ihm schenkte: Herausforderungen.

Die Stimme hatte ihm in den letzten Monaten mehrere Aufgaben gestellt. Es hatte langsam angefangen, fast schon spielerisch. Beobachte das verheiratete Pärchen am Ende der Straße beim Sex. Lass einen Stein auf den Straßenhund fallen – aus dem Fenster im vierten Stockwerk. Schicke eine Bombendrohung an die örtliche Grundschule.

Die Stimme hatte einen Namen und er kannte ihn. Aber er bezeichnete sie gerne als die Stimme. Das hielt ihn auf Abstand und erleichterte es ihm, die Aufgaben auszufГјhren und die Instruktionen zu beachten.

Die ersten Herausforderungen waren einfach gewesen – obwohl er sich gewünscht hätte, der Hund wäre sofort gestorben, nachdem der Stein ihn getroffen hatte. Er hatte noch immer Albträume deswegen.

Nach den ersten Aufgaben waren die richtigen Herausforderungen gekommen. Die, in denen es um Mord ging. Die Stimme wusste, was er sich im Internet ansah. Manchmal glaubte er, die Stimme kenne ihn besser als er selbst und kontrolliere ihn von innen.

Ja, die Stimme hatte ihn schließlich darum gebeten, zu töten – eine Fantasie auszuleben, statt nur davon zu träumen, während er im Dark Web browste.

Die Stimme hatte ihn herausgefordert. Und er war ihr gefolgt.

Und nun gab es eine neue Aufgabe.

Die Stimme hatte sie ihm vor einer Stunde erteilt. Deshalb browste er gerade durch Foren und schaute sich Videos tabuisierter Inhalte an – Inhalte, von denen er wusste, dass sie ihm Gefängniszeit einbringen konnten, wenn er jemals erwischt wurde.

Er arbeitete daran, den Mut aufzubringen. Denn die Stimme hatte ihn erneut gebeten, zu töten. Und dieses Mal sollte er es am helllichten Tag tun.

Die Vorstellung war mehr als aufregend – fast schon erregend. Er konnte an nichts anderes denken. Er war sich nicht sicher, wie er es anstellen sollte, aber er hatte bereits ein Opfer im Kopf. Er hatte schon darüber nachgedacht, bevor die Stimme überhaupt damit begonnen hatte, mit ihm zu sprechen. Eine andere Frau, eine andere wunderschöne Kreatur, die ihm das Gefühl gab, schmutzig und schlecht zu sein. Sie verdiente es vermutlich nicht, zu sterben, aber das lag nicht in seiner Hand.

Die Stimme hatte die Herausforderung gestellt und er konnte nichts dagegen tun. Selbst wenn er es wollte. Sein Verstand, sein Körper und sein Herz waren bereit, die Aufgabe anzunehmen. Es würde einfach sein. Wie atmen oder schlafen. Es wäre natürlich, wie alles andere auch, worum die Stimme ihn gebeten hatte.

Tu es erneut. Dieses Mal am helllichten Tag.

Er konnte die Stimme in seinem Kopf noch immer hören. Jedes Wort langsam und langgezogen.

Sie war noch immer da, als er auf seinem Schreibtischstuhl einschlief, der Bildschirm mit den erbärmlichen Fotos vor ihm.




Kapitel sieben


Es war nie einfach, die Familie eines Opfers so kurz nach dem Tod eines geliebten Menschen zu besuchen – vor allem wenn man vorhatte, genau darüber Fragen zu stellen. Mackenzie hatte aufgehört, zu zählen, wie oft sie diesen Besuch gemacht hatte, aber es gab einige, die sie nie vergessen würde. Trauer wurde immer auf unterschiedlichste Weise ausgedrückt, aber noch nie hatte sie gesehen, dass sie durch pure Wut geäußert wurde.

Der Besuch bei Sophies Torres Eltern war anders. Die Mutter – eine spindeldürre Frau mit dem Namen Esmeralda – war vor Trauer offensichtlich fix und fertig. Das sah sie in ihren Augen und in ihrem Gesicht, als sie ihr Haus betrat.

Esmeralda führte sie wie ein Gespenst durchs Haus, als übe sie, in ihrem eigenen Zuhause herum zu spuken. „Bitte kommen Sie herein“ war alles, was sie herausgebracht hatte. Sie lief, als verlören ihre Beine ihre Kraft, als sähe kein einziger Muskel in ihrem Körper auch nur einen Grund, weiterzumachen, jetzt, wo ihre Tochter nicht mehr am Leben war.

Dies war wirklich der eine Teil ihres Jobs, den Mackenzie hasste. Sie schielte zu Webber und sah, dass er feierlich und fast schon bedauernd wirkte. Es passte nicht zu ihm – sie hatte ihn bisher ganz anders kennengelernt.

Esmeralda brachte sie in ihre Küche. Dort sah Mackenzie ihren Mann, der am Küchentisch saß. Vor ihm ein Fotoalbum und ein Dekanter mit einer Art von Likör. Sein Gesicht war wie eine Steinmauer, sein Körper eine Hülle der Wut. Sie war so dick, dass Mackenzie glaubte, sie spüren zu können wie eine Feuerwand.

„Mein Mann“, sagte Esmeralda und winkte abwesend in seine Richtung. Sie nannte nicht einmal seinen Namen und schien nichts mehr zu tun, als ein wahlloses Möbelstück zu identifizieren.

Zuerst sagte er nichts. Doch als die Agenten die Küche betraten, stand er auf. Er ließ das Fotoalbum auf dem Tisch liegen, nahm sich aber den Likör. Noch immer sagte er nichts und lehnte sich lediglich gegen den Küchentresen.

„Tee?“, fragte Esmeralda. „Kaffee?“

Mackenzie wollte nichts, aber sie war schon oft in dieser Situation gewesen. Sie wusste, dass es für Esmeralda Torres eine große Hilfe sein würde, etwas zu tun zu haben. Eine Beschäftigung zu haben gab Menschen in dieser Situation das Gefühl, die Kontrolle über irgendetwas zu behalten.

„Wir wissen, wie unglaublich schwer das ist“, sagte Webber, während sie sich auf die kleinen Barstühle setzten. „Vielen Dank für Ihre Kooperation. Dabei helfen Sie uns in vielerlei Hinsicht, diesen Fall besser zu verstehen.“

Esmeralda sagte nichts, sondern beschäftigte sich mit dem Tee. Kein einziges Wort wurde in der Küche der Torres gesprochen, bis der Wasserkessel auf dem Herd pfiff und sie das Wasser in die Tassen gab, an deren Seiten Teebeutel hingen.

Esmeralda Гјberreichte ihnen ihre Teetassen. Mackenzie nippte sofort daran. Der Tee war stark, vermutlich eine Art GrГјntee, wenn sie richtig lag. Sie hatte schon immer Kaffee bevorzugt.

„Was können wir für Sie tun?“, fragte Esmeralda schließlich.

„Wir versuchen, herauszufinden, ob Sophie möglicherweise Leute kannte, die Sie als ihre Feinde betrachten würden“, sagte Mackenzie. „Ich benutze dieses harte Wort nicht gerne, aber gewisse Details ihres Todes bringen uns zu der Annahme, dass er womöglich mit einem anderen aktuellen Fall in Verbindung steht.

„Feinde, nein …“, sagte Mrs. Torres. „Aber es gab einige Dinge, die …“

Sie verstummte, blickte zu Boden und gab offensichtlich ihr Bestes, nicht zu weinen. In der Zwischenzeit war Mr. Torres mehr als glГјcklich, ihren Satz fortzufГјhren. Und die Wut, die Mackenzie schon zuvor gespГјrt hatte, wurde in seiner Stimme noch deutlicher.

„Keine Feinde“, sagte er und sprach mit dem Tonfall eines Ausbilders beim Militär. „Aber ihr Ex-Freund ist ziemlich an die Decke gegangen, als sie mit ihm Schluss gemacht hat. Er hat ihr furchtbare Nachrichten geschickt.“

„Wann ging die Beziehung zu Ende?“, fragte Mackenzie.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht vor etwa einer Woche. Es ist definitiv nicht länger als zwei Wochen her.“

„Woher wissen Sie von den Nachrichten?“, fragte Webber.

„Sie hat sie uns gezeigt“, sagte Mr. Torres. „Sie kam vorbei und schien irgendwie ängstlich zu sein. Sie wollte wissen, ob wir es für angebracht hielten, die Polizei zu rufen. Ich meinte, ich würde mit dem kleinen Arschloch reden und habe ihn angerufen. Aber er ist nicht rangegangen. Ich habe ihm eine relativ aggressive Nachricht hinterlassen und soweit ich weiß, gab es danach keinen Kontakt mehr.“

„Was stand in den Nachrichten des Ex-Freunds?“, fragte Mackenzie.

„Obsessive Dinge. Er schrieb, dass sie einen Fehler gemacht hatte und er ihr folgen konnte, wann immer er wollte. Dass er immer wusste, wo sie war. In einer Nachricht hoffte er, sie eines Tages so sehr zu verletzen, wie sie es getan hatte.“

„Du hast nicht zufällig ihr Handy?“, fragte Mackenzie und sah zu Webber.

„Nein“, sagte Webber. „Das ist noch immer bei der örtlichen Polizeidienststelle.“

„Haben Sie diesen Freund je kennengelernt?“, fragte Mackenzie.

„Einmal“, sagte Mr. Torres. „Er kam zum Abendessen vorbei und ich hätte schwören können …, dass er ein anständiger Junge ist. Aber sie hat durchdringen lassen, dass die Beziehung eher holprig war. Und dann diese verdammten Nachrichten …“

„Wie lange waren die beiden zusammen?“, fragte Webber.

„Vielleicht ein Jahr?“, vermutete Mr. Torres. „Könnte auch etwas länger sein, nehme ich an.“

„Wissen Sie, warum die Beziehung auseinander ging?“, fragte Mackenzie.

„Ich denke, er wurde zu anhänglich.“ Jetzt sprach Mrs. Torres. Sie hatte offenbar die Kontrolle über ihre Emotionen zurückerlangt und wollte helfen. „Sophie war bereit, sich wie eine Erwachsene zu verhalten. Sie wollte mit dem Kellnern aufhören und ihre Model-Karriere weiterverfolgen.“

„Sie war Model?“

„Nur in Teilzeit“, sagte Mrs. Torres. „Sie hatte keine großen Jobs. Ein paar Aufnahmen für Print- und Onlineanzeigen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde sie für einen Werbespot gecastet, aber der wurde nie ausgestrahlt.“

„Wann haben Sie beide zum letzten Mal mit ihrem Ex-Freund gesprochen?“, fragte Webber.

„Außer der Nachricht, die ich ihm hinterlassen habe“, meinte Mr. Torres, „haben wir nur mit ihm gesprochen, als sie ihn zum Essen mitgebracht hat.“

„Hat er einen Namen?“, fragte Mackenzie.

„Ken Grainger“, antwortete Mrs. Torres.

„Wenn Sie ihn treffen“, sagte Mr. Torres, „stellen Sie sicher, dass er weiß, dass eine seiner ungehobelten Nachrichten vermutlich das letzte war, was mein Baby vor ihrem Tod gesehen hat. Und wenn sich herausstellt, dass er dahintersteckt … ich würde viel Geld dafür bezahlen, wenn ich nur fünf Minuten mit ihm allein sein darf.“

Eine Träne schlich sich aus seinem rechten Auge. Mackenzie glaubte nicht, jemals jemanden dabei beobachtet zu haben, vor Wut zu weinen. Weder sie noch Webber kommentierten seine Aussage. Sie packten ihre Sachen zusammen und verließen das Haus. Mackenzie hatte das Gefühl, Mr. Torres� Wut klebe an ihr wie ein Spinnennetz.


* * *

Mithilfe der Techniker auf dem Revier war Mackenzie in der Lage, innerhalb von fünfzehn Minuten Adresse, Arbeitgeber und Handynummer von Ken Grainger herauszufinden. Seine Wohnung lag elf Kilometer vom Haus der Torres entfernt und im schäbigeren Teil Downtowns. Das Stadtgebiet schien in der Vergangenheit stecken geblieben zu sein. Graffiti an Gebäudewänden lasen NIRVANA FOREVER, RIP KURT und LAYNE LEBT.

„Ich verstehe die Nirvana und Kurt Cobain Anspielungen“, sagte Mackenzie. „Aber was bedeutete ‚Layne lebt�?“

„Layne Staley, Sänger von Alice in Chains. In diesem Stadtteil kann man der Grunge-Bewegung nicht entkommen.“

Mackenzie nickte. Seattle war nicht fГјr Starbucks und Dauerregen bekannt, sondern auch als Geburtsstadt der Grunge-Musik. Auf dem Weg zu Graingers Wohnung entdeckte sie weitere Graffiti, kleine Clubs und eine alarmierende Zahl an Schallplattenladen. Dort angekommen standen sie vor verschlossener TГјr. Das war nicht allzu schockierend, schlieГџlich war es mitten am Tag und die meisten Leute bei der Arbeit.

Doch ein Anruf bei seinem Arbeitgeber ‚Next Wave Graphics� brachte ähnliche Ergebnisse. Ein sehr ärgerlich klingender Mann teilte ihnen mit, dass Ken Grainger seit drei Tagen nicht bei der Arbeit erschienen war und außerdem nicht ans Telefon ging. Der wütende Mann bat Mackenzie, Ken darüber zu informieren, dass er gefeuert war.

„Klingt mehr als verdächtig, wenn du mich fragst“, sagte Webber.

„Geht mir ähnlich“, meinte Mackenzie. „Wir müssen ihn schnell finden. Wenn er unser Mann ist und kein Problem damit hat, die Staatsgrenzen zu überschreiten, wird es schwer, ihn zu lokalisieren.“ Sie dachte eine Weile darüber nach, während sie und Webber im Wagen saßen und an ihrem Kaffee nippten. „Fällt dir im Büro jemand ein, der ein Talent dafür hat, schnell persönliche Informationen herauszufinden? Sozialversicherungsnummer, Kreditkarteninformationen, solche Dinge?“, fragte Mackenzie, während sie über die nächsten Schritte nachdachte.

„Naja, das ist Standard, es würde also nur etwa zwanzig Minuten dauern, diese Infos zu besorgen“, sagte Webber.

„Schneller wäre mit lieber. Lass die Sozialversicherungsnummer weg und sieh nach, ob wir eine Kreditkartennummer finden können, die unter Ken Grainger gelistet ist.“

Webber nahm sein Handy fast schon zu gehorsam in die Hand und folgte ihren Anweisungen. Er blickte von Mackenzie zur Straße und wieder zurück, während er telefonierte. Mackenzie lauschte und war beeindruckt, wie gut Webber die Person am anderen Ende händelte. Sie begann, zu verstehen, dass viele Beamten im Büro in Seattle Webber ziemlich zu respektieren schienen. Wenn er um etwas bat, bekam er es für gewöhnlich schnell und ohne Nachfragen.

Bei Ken Graingers Kreditkarteninfos war es nicht anders. Webber bekam, was er wollte und zwar innerhalb von sechs Minuten. Er legte seine Hand aufs Handy-Mikrofon und sah Mackenzie an. „Ich habe die Infos. Er checkt gerade, wann die Karte zum letzten Mal benutzt wurde …“ Er hielt inne und richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zu. „Ja … oh, wirklich? Ja, das wäre perfekt. Danke.“

Er beendete den Anruf und ließ den Wagen an. „Ken Graingers Kreditkarte wurde etwa fünfundzwanzig Kilometer von hier an einer Tanksteller verwendet. Das war heute Morgen um 8.37 Uhr.“

„Er ist also noch in der Stadt“, sagte Mackenzie. „Das war vor weniger als drei Stunden.“

„Es wird noch besser“, sagte Webber. „Zu der Zeit wurde die Karte zum letzten Mal in ihrer physischen Form benutzt. Mein Kollege meint, dass die Kreditkarte aber vor weniger als einer Stunde verwendet wurde, um eine Amazon-Bestellung zu bezahlen.“

„Wissen wir wo?“

„Noch nicht. Es wird daran gearbeitet, die IP-Adresse und deren Location zu finden. Im Moment fahre ich in Richtung der Tankstelle, schließlich muss er irgendwo in der Nähe sein. Genaueres liefert uns dann hoffentlich die Amazon-Bestellung.“

„Tolle Arbeit“, sagte sie.

Das Kompliment brachte Webbers Augen zum Leuchten, als er in den besseren Teil der Stadt zurückfuhr. Unterwegs begann es wieder, leicht zu regnen, doch der Himmel war größtenteils blau und wolkenlos.

Weniger als zwei Minuten später klingelte Webbers Handy. Er antwortete sofort, sprach nur wenige Worte und legte dann mit aufgeregtem Grinsen auf.

„Die Amazon-Bestellung wurde von einem Laptop etwa sechs Minuten von hier entfernt getätigt“, informierte er sie.

In diesem Moment verstand Mackenzie, dass bestimmte Dinge manchmal schlichtweg universal waren. Sie hatte so lange mit Ellington gearbeitet, dass sie fast schon vergessen hatte, wie es war, die Aufregung eines anderen Agenten mitzuerleben. Weder sie noch Webber sprachen ein Wort. Es war fast wie eine Achterbahnfahrt: Sobald die Metallstange auf deinem Schoß lag und der Wagen ins Rollen kam, verstummten all die lockeren Gespräche und Witzeleien. Webber beschleunigte sein Auto und begab sich zu der Adresse, die man ihm genannt hatte. Beide saßen sie zurückgelehnt im Wagen und schwiegen.

Mackenzie fühlte sich etwas schuldig, so gespannt und aufgeregt zu sein. Mit Ellington war ihre Arbeit schnell vorhersehbar und routiniert geworden. Sie hatten sich aneinander gelabt und hin und wieder sogar auf fast telepathische Weise miteinander kommuniziert. Aber das hatte auch einen Nachteil mit sich gebracht: Die Arbeit war alltäglich, fast schon langweilig geworden. Und als Webber durch die Straßen raste und manche Kurven so scharf nahm, dass das Wagenheck schon leicht ins Schleudern geriet, fragte sich Mackenzie, ob sie genau das gebraucht hatte. Ein bisschen Adrenalin in ihrer Karriere, nachdem sie endlich ihren verlängerten Mutterschutz hinter sich gelassen hatte, würde vielleicht Wunder bewirken.

Vier Minuten später erreichten sie ihr Ziel und Webber parkte auf dem kleinen Parkplatz. Die Wohnung war Teil eines Apartmentkomplexes. Als Webber ausstieg, folgte Mackenzie ihm ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Er sah sie an, als warte er darauf, zu sehen, ob sie die Führung übernehmen würde, aber sie überließ sie ihm.

In seinem Schritt lag keine Dringlichkeit, als er zur Wohnungstür lief. Die rasante Fahrt hatte sie auf schnellstmögliche Weise zum Ziel gebracht. Die Amazon-Bestellung war vor etwas über einer Stunde getätigt worden und Ken Grainger hatte seinen Aufenthaltsort seither möglicherweise verlassen. Nun war es an der Zeit herauszufinden, ob er das getan hatte oder nicht.

Webber klopfte an die Tür. Sie hörten Bewegungen von drinnen und ein sehr leises Geräusch, das Mackenzie für Flüstern hielt.

Webber klopfte erneut, dieses Mal lauter. Einige Augenblicke später wurde die Tür von einem jungen Mann, vermutlich Anfang zwanzig, geöffnet. Er hatte kurz geschnittenes Haar und trug ein weißes Tanktop und weite Shorts.

„Ja?“, sagte er und versuchte, cool und gesammelt zu erscheinen. „Kann ich helfen?“

„Sind Sie Ken Grainger?“, fragte Webber.

„Wer? Ne, Mann.“

„Wie heißen Sie?“

Der Typ sah schon fast beleidigt aus. Er trat in den Türrahmen und versuchte, tough rüberzukommen. „Sie haben an meine Tür geklopft, Mann – wer sind Sie?“

Webber bewegte sich langsam und bedeutungsvoll, als er seine Marke und seinen Ausweis herauszog. Mackenzie verkniff sich ein Lächeln, als sie beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck des Mannes überrascht veränderte.

„Agent Webber, FBI. Das ist meine Kollegin, Agent White. Also, ich frage nochmal: Wie heißen Sie?“

„Toby Jones. FBI? Was ist los?“

„Wir suchen nach einem Mann namens Ken Grainger“, sagte Webber. „Wir sind uns ziemlich sicher, dass er hier war und zwar erst kürzlich.“

„Nope. Bin nur ich, Mann.“

„Dürfen wir reinkommen und nachsehen?“, fragte Mackenzie.

„Brauchen Sie dafür nicht eine richterliche Anordnung oder so?“

„Normalerweise ja“, sagte Webber. „Aber wir haben Informationen, die besagen, dass Ken Graingers Kreditkarte vor einer Stunde und zehn Minuten an einem Laptop dieser Adresse verwendet wurde. Sie haben also die Wahl: Wir befragen Sie zum Diebstahl Graingers Kreditkarte oder Sie lassen uns rein und wir gehen sicher, dass er nicht hier ist.“

Mackenzie sah, dass Jones Pupillen sich schnell nach links bewegten, als versuche er, durch den Hinterkopf zu schielen. Der Blick war kurz und heimlich, aber sie ertappte ihn dabei. Mackenzie blickte ihm Гјber die Schulter, sah aber nichts.

„Scheiße, Mann“, sagte Jones. „Ja, kommen Sie rein.“

Aus der Wohnung hörte man eine weitere Stimme. „Danke für nichts, Toby.“

Als Mackenzie und Webber die Wohnung betraten, erschien ein zweiter Mann um die Ecke, wo sich offensichtlich das Wohnzimmer zu befinden schien. Er schien extremst beunruhigt zu sein, als wГјrde ihm jeden Moment Гјbel werden.

„Ken Grainger?“, fragte Mackenzie.

„Ja.“

„Sieht so aus, als hätten Sie versucht, sich zu verstecken“, sagte Webber. Seine Stimme war nicht anschuldigend, was gut war. Es machte keinen Sinn, davon auszugehen, dass Grainger ihr Täter war … obwohl sein Verhalten definitiv darauf zu schließen schien.

„Ich verstecke mich nicht. Nicht wirklich.“

„Irgendeine Ahnung, warum wir hier sind?“, fragte Webber.

„Wegen Sophie nehme ich an.“

Mackenzie bemerkte, dass Toby Jones noch immer hinter ihnen stand. Sie drehte sich zu ihm um und fragte: „Dürften wir kurz mit Mr. Grainger unter vier Augen sprechen?“

„Sicher“, sagte er. Er zog sich ein Paar Turnschuhe an, die neben der Haustür standen und verließ dann die Wohnung. Dabei warf er seinem Freund einen mitfühlenden Blick zu.

Als er weg war, schien Grainger noch etwas blasser zu werden. Er stand bewegungslos im Flur und sein Blick wanderte zwischen den Agenten hin und her.

„Warum gehen Sie davon aus, dass wir wegen Sophie hier sind?“, fragte Mackenzie ihn.

„Ich weiß, dass sie ermordet wurde. In unserem Freundeskreis ist das die Nachricht schlechthin. Und ich nehme an, wegen meiner albernen Nachrichten verdächtigt zu werden.“

„Laut ihrem Vater haben Ihre Nachrichten indiziert, dass Sophie von Ihnen beobachtet wurde“, sagte Webber. „Dass Sie ihr gefolgt sind. Stimmt das?“

„Nur einmal. Ich habe am Ende des Häuserblocks geparkt, wo sie wohnt. Ich war mir sicher, dass sie sich mit jemand anderem trifft, also bin ich fast einen Tag lang dort gesessen. Aber ich habe sie nie gesehen.“

„Wann war das?“

„Vor fünf Tagen. Das war dann … was? Zwei Tage vor ihrem Tod?“

„Mr. Grainger, Sie verstehen, wie diese Nachrichten aufgrund der Ereignisse aussehen müssen?“, fragte Mackenzie.

„Das tue ich.“

„Wenn Sie kein felsenfestes Alibi für die Nacht ihres Todes haben, werden wir Sie als Verdächtigen mitnehmen müssen.“

„Das war Montagabend. Ja, ich habe ein ziemlich gutes Alibi. Ich habe mir einen hinter die Binde gekippt und mit Toby und ein paar anderen Freunden bis zur Sperrstunde gefeiert.“

„Kann das außer Toby jemand bestätigen?“, fragte Webber.

„Bestimmt. Ich habe ein paar Namen.“

„Haben Sie noch die Nachrichten auf dem Handy, die Sie Sophie geschickt haben?“

Grainger schien bereits gewusst zu haben, wo die Unterhaltung hinführte. Er zog sein Handy aus der Tasche, suchte den Nachrichtenverlauf heraus und übergab ihnen das Telefon. Mackenzie nahm es und scrollte durch die Nachrichten. Sie sah sofort, dass er keine der SMS gelöscht hatte. Die Unterhaltung datierte über ein Jahr zurück. Sie sah Herz-Emojis, Selfies der beiden und ein eher provokatives Foto Sophies in einem bauchfreien T-Shirt und Unterhose. Doch am Ende des Verlaufs wurde klar, dass die Beziehung dabei war, zu zerbrechen. Es ging viel um Sophies Modelkarriere und ihre Chance, an einem kleinen Kunstprojekt teilnehmen, wo sie dafür bezahlt werden würde, nackt zu posieren. Mackenzie überflog den gesamten Verlauf, während Webber weiterhin Grainger befragte.

„Mr. Granger, waren Sie in letzter Zeit in Oregon?“

„In letzter Zeit? Nein. Sophie und ich waren vor zwei Jahren auf einem Konzert in Portland. Das war mein einziger Besuch seit meiner Kindheit. Welche Rolle spielt das?“

Webber antwortete nicht, sondern setzte seine Befragung fort. „Können Sie uns sagen, warum Sie und Sophie Torres sich getrennt haben?“

„Das steht alles in den Nachrichten, die Ihre Kollegin gerade liest“, sagte Grainger. „Ich war eifersüchtig und anhänglich. Sie zog mit den lokalen Werbeanzeigen, für die sie gemodelt hat, jede Menge Aufmerksamkeit auf sich – genau wie mit einigen ihrer Instagram-Postings. Sie bekam Angebote von Indie Bands und fadenscheinigen Kunstprojekten. Ich kam damit nicht klar. Und als mir klar wurde, dass ich sie deshalb verlieren könnte, bin ich die Wände hochgegangen.“

Einige der Nachrichten, die Mackenzie sich durchlas, bestätigten das. Manche wiesen sogar darauf hin, dass Ken Grainger möglicherweise suizidale Neigungen hatte.




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